Vor zehn Jahren schrieb ich den folgenden Text zu Weihnachten. Ich möchte ihn Euch noch einmal zum Lesen geben, er ist so schön, wie ich finde.
In der Geschichte ist von einer Carrera-Bahn die Rede. Und vor zwei, drei Jahren habe ich tatsächlich unter meinen Dachbodenhabseligkeiten eine kleine sitzende Figur entdeckt. Diese gehörte zu der großen Tribüne, die bei der Carrera-Bahn dabei war. Jetzt gerade ist mir das Männlein wieder in die Hände gefallen und ich wurde abermals an diese Geschichte erinnert. Ein schöner Anlass also, Euch den Text von 2013 auch noch einmal zu präsentieren. Viel Freude damit:
Dass bei den allermeisten Menschen der ursprüngliche, religiöse Hintergrund des Weihnachtsfestes längst in den Hintergrund getreten ist, daran mag man sich gewöhnt haben.
Es ist eben das größte und bedeutsamste Fest, das man im Jahr feiert und es ist ganz klar das Fest der Geschenke, des Beschenkens und des Schenkens; kurz gesagt, ein Fest des Geldausgebens.
Allerdings gibt es ja auch eine, nach meinem Gefühl, größer werdende Zahl von Weihnachtsverweigerern.
„Wir schenken uns seit Jahren nichts mehr.“
„Solange die Kinder noch im Haus waren, ja da haben wir …“
„Das ist doch alles nur Kommerz, da haben wir uns ausgeklinkt.“
„Wir kaufen uns das ganze Jahr über, was wir haben wollen und an Weihnachten machen wir gar nichts.“
Nun haben wir noch Kinder, die bei uns wohnen, die sich immer noch ganz arg über Geschenke freuen und könnten deshalb sagen, dass wir das alles nur veranstalten, weil wir eben Kinder haben.
Aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Denn egal wie alt ich werde und egal, wie erwachsen die Welt um mich herum auch werden mag, ich werde immer Weihnachten feiern und ich werde immer Geschenke haben wollen, ja, ich werde sie mir notfalls selbst kaufen, und diese Geschenke werden immer Spielzeug sein.
Spielzeug? Spielzeug bei einem erwachsenen, abgehobenen und rational denkenden Akademiker in diesem Alter?
Ja! Und es muss Spielzeug sein!
Und das ist deshalb so:
Meine Mutter hatte ein Händchen für Gemütlichkeit. Mit wenigen Mitteln gelang es ihr immer und überall eine gemütliche Atmosphäre herzustellen. Ob es der gemeinsame Fernsehabend mit dem Ohnsorg-Theater war oder der sonntägliche Besuch von Onkel und Tante. Sie verstand es einerseits, für die Gemütlichkeit zu sorgen und andererseits hatte sie das Talent, mich als Kind für alles Mögliche zu begeistern.
Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, dass meine Eltern irgendwann, oder zumindest besonders oft, irgendetwas speziell für mich als Kind gemacht oder veranstaltet hätten.
Hubschraubereltern, die ständig um ihre Kinder kreisen, die nichts Besseres zu tun haben, als jeden Schritt ihrer Kinder zu überwachen und die komplette Freizeit mit ihnen gemeinsam durchzuorganisieren; und die dafür ihr eigenes Leben für 20 Jahre vollkommen hintenan stellen, um dann nahtlos ein paar Jahre später ihre Enkelkinder zu „behubschrauben“, solche Eltern waren meine nicht und solche Eltern sind auch wir nicht.
Für Kinder etwas veranstalten, sich als Erwachsener hinsichtlich seiner Freizeitgestaltung nach den Kindern zu richten…, nein, das machten meine Eltern nicht.
Wenn ich lange nachdenke, dann erinnere ich mich daran, dass meine Mutter, als Belohnung für irgendeine kindliche Glanzleistung, mit mir 1969 ins Kino gegangen ist, „Pippi Langstrumpf“ war gerade als Film herausgekommen, mein erstes Kinoerlebnis.
Einmal waren meine Eltern auch mit mir im Zirkus und ich erinnere mich auch daran, dass mein Vater mit mir einmal, in einem eher etwas hilflosen pädagogischen Anfall versucht hat, ein physikalisches Experiment mit einem kleinen Elektromotor und einer Batterie zusammenzubauen.
Ansonsten blieb es dabei: Mutter machte mir das, was die Erwachsenen taten, eben so schmackhaft wie möglich, verbreitete Gemütlichkeit, und es gelang ihr auch immer wieder, mich zu begeistern.
Niemals hätte sie sich mit mir hingesetzt und etwas gebastelt. Stattdessen durfte ich mit ihr backen und kochen oder mit dem Vater im Keller irgendetwas reparieren oder ihm im Garten helfen.
Das hatte natürlich auch seine Vorteile. Dadurch, dass sie nicht ständig um mich kreisten, konnte ich als Kind mit meinen Freunden tun und lassen, was ich wollte. Ich konnte mich aber auch stundenlang mit meinen Büchern in mein Zimmer zurückziehen und lesen so lange und so viel ich mochte. Natürlich hatte ich ein Pippi Langstrumpf-Buch, eine Märchensammlung und den Räuber Hotzenplotz. Das waren Buchgeschenke von Verwandten. Ansonsten stand in meinem Zimmer, das ich von meinem 16 Jahre älteren und längst ausgezogenen Bruder übernommen hatte, alles an Literatur, was man sich so vorstellen kann, die russischen Weltautoren, Pearl S. Buck, Schiller, Goethe, Shakespeare, und das in rund 400 Bänden.
Krieg und Frieden kannte ich beinahe auswendig, noch bevor der erste Band Karl May bei mir mal Einzug hielt.
An Weihnachten war das alles nicht viel anders.
Mutter liebte Weihnachten. Schon zum ersten Advent musste die ganze Wohnung hübsch dekoriert sein. Den heute allgegenwärtigen Weihnachtsmann oder „Santa“, den gab es noch nicht in dieser Form, nein, zu meiner Zeit, da kam noch das Christkind. Und der ganze blinkende LED-Rummelplatz-Weihnachtskram, den gab es auch noch nicht. Da wurden Strohsterne, Tannenzweige und Girlanden aufgehängt, ein Christstern auf die Kommode gestellt, der Adventskranz auf dem Tisch platziert und ein Pomanderapfel gebastelt.
Dazu wurde eine Orange, die damals auch bei noch nicht Orange, sondern Apfelsine hieß, mit Gewürznelken über und über gespickt und dann an einem Faden in einen Türbogen gehängt. Dieser Pomanderapfel verströmte dann, gemeinsam mit den Tannenzweigen einen schönen vorweihnachtlichen Duft.
Einen Adventskalender hatte ich auch.
Und auch die Adventskalender waren früher anders als heute.
Da gab es noch keine Playmobil-Adventskalender und da gab es auch keine mit kleinen Kümmerling-Fläschchen drin oder mit Mist-Kitty-Barbie-Disney-Kram. Nein, die Adventskalender waren anfangs noch nicht einmal mit Schokolade gefüllt!
Meine ersten Adventskalender waren aus schwarzem Tonpapier und mit kleinen silbernen Sternchen beklebt. Er hatte, so wie es sich gehört, 24 kleine Türchen.
Zuerst musste man die Rückseite aufklappen. Der Kalender war kaum größer als eine doppelte Postkarte und auch nicht viel dicker. Also zuerst die Rückseite an einer perforierten Linie lösen und seitlich herausklappen, damit der Kalender nicht umfallen konnte.
Öffnete man nun eines der Tore, konnte man im nun offenen Fensterchen ein buntes, auf Transparentpapier aufgedrucktes Bild sehen. Da man den Kalender vor eine Kerze oder auf die Fensterbank stellte, konnte das Licht von hinten durch das Fensterchen scheinen.
Am ersten Tag war es ein Stern, am zweiten eine Maria, dann kam der Josef, dann ein Schaf, dann eine Sonne usw., alles biblische, religiöse Motive, die auf die Adventszeit und das kommende Fest, die Geburt des Jesukindes hindeuteten.
Hinter dem größten Fenster für den 24. Dezember, das natürlich ganz in der Mitte war, befand sich selbstverständlich das Bild einer schönen Krippe.
Ich war glücklich damit und die anderen Kinder, die etwas Ähnliches hatten, waren auch zufrieden.
Später kamen dann die mit Schokolade gefüllten Kalender in Mode, so wie es sie heute immer noch für kleines Geld bei ALDI gibt, nur waren die damals noch etwas ganz Besonderes und viel, viel teurer.
Meine Mutter backte gerne und weil sie das so gerne tat, war der Ausstoß der heimischen Adventsbackstube so groß, dass ständig irgendwelche Leute, meistens plappernde alte Frauen, zu uns eingeladen wurden, die quasi mit vorgehaltener Kaffeekanne zum übermäßigen Verzehr von Spritzgebäck, Zimtsternen und Kokosmakronen genötigt wurden. Und weil die alten Frauen gar nicht so viel essen konnten, obwohl die Völlerei so 15 Jahre nach dem Krieg ja noch völlig in Mode war und als gesund galt, wurde auch noch sehr viel Gebäck in Dosen und Schachteln verpackt und an andere Leute verschenkt, damit die daheim völlen, füllen und futtern konnten.
Da die grausamste Erfindung seit der Entdeckung des unverwüstlichen Plastiks, die Tupperdosen, es damals noch nicht bis in unsere Gegend geschafft hatten, sammelte Mutter das ganze Jahr über Keksdosen aus Blech. Das war nicht besonders schwer, damals verpackten die Firmen noch viel mehr Sachen in langlebige Schachteln aus Holz oder Blech. Es war noch nicht das Folienzeitalter angebrochen.
Man sieht, die Weihnachtszeit war angefüllt mit allerlei netten Dingen, nur eben extra für das Kind, da wurde nicht viel gemacht.
Ich klage nicht darüber, nein; ich habe da auch nie einen Mangel empfunden oder das Gefühl gehabt, da fehle etwas, bei uns war das so, das war gut so und ich kannte das nicht anders.
Allerdings am Heiligen Abend, da war dann doch etwas anderes.
Der Heilige Abend war für mich, wie wohl für jedes Kind, einer der aufregendsten Tage des Jahres. Ich konnte es kaum abwarten, bis endlich die Zeit gekommen war, dass Mutter mit dem kleinen Glöckchen klingelte, was bedeutete, dass das Christkind endlich da gewesen ist und die Geschenke gebracht hatte.
Übrigens wurde mir nie vorgemacht, das Christkind würde tatsächlich irgendwie durch die Luft schweben oder unter der Tür durchhuschen, um die Geschenke zu bringen.
Das Christkind bringt die Geschenke, aber es war auch klar, dass die Eltern sie besorgten und unter den Baum legten.
Der genaue Zusammenhang blieb mystisch und bedurfte auch keiner genaueren Klärung.
Aber von Anfang an:
Schon am Morgen des Tages wurde der große, schwere Vorhang zugezogen, der unser Wohnzimmer vom Esszimmer trennte.
Und dann kam ein fast schon martialisch anmutendes Ritual, es wurde eine abgehackte Hühnerpfote mit einer Sicherheitsnadel an den Vorhang gehängt.
Ja, früher kaufte man Hühner auf dem Markt noch mitsamt dem Kopf und den Füßen. Glücklicherweise waren sie schon tot und ausgenommen, aber die Hausfrauen wollten immer den Kopf und die kralligen Beine dranhaben, da konnte man angeblich sehen, wie alt der Vogel war und ob er noch frisch war.
Vor der Zubereitung mussten Kopf und Füße natürlich abgehackt werden und als kleiner Junge hatte ich Angst vor den grässlich gebogenen, nackten und schuppigen Füßen der toten Vögel.
Also musste man nur irgendwo so eine Hühnerpfote hinhängen und klein Peterchen nahm sofort weinend Reißaus.
Das machte man sich auch als Abwehrmaßnahme gegen neugierige Kinderaugen zunutze, wenn Mutter hinter dem dicken Vorhang im Esszimmer den Baum schmückte und die Geschenke platzierte, während ich im Fernsehen „Wir warten aufs Christkind“ anschauen durfte.
„Watt’n hier los? Macht ihr Voodoo?“ fragte einmal eine Nachbarin entsetzt, als sie die Hühnerpfote am Christkindls-Vorhang entdeckte.
Die restliche Abfolge des Heilig-Abend-Tages war katholisch genormt. Erst in die Kirche und zwar in die große Messe, die ganz besonders lange dauerte, weil da der Kirchenchor das alles vortragen durfte, was er das ganze Jahr über mühsam geprobt hatte. Die große Krippe, die vielen großen Tannenbäume im Chorraum, der Kirchenchor und die vielen festliche gekleideten Leute, das hatte schon was. Ja, das war auch für uns Kinder was Tolles, nur dauerte das Ganze eben viel zu lang, viiiiiel zu lang!
Des Besingens und Beweihräuchertwerdens überdrüssig, waren wir froh, wenn alles vorüber war und während sich die Erwachsenen vor der Kirche noch schöne Festtage wünschten und aus der Kirche noch die letzten Töne von „Stille Nacht, heilige Nacht“ klangen, standen die Kinder beisammen und spekulierten aufgeregt über die möglicherweise zu erwartenden Geschenke. Außerdem wurde abgesprochen, wer wen zu späterer Stunde noch besuchen würde, um die Geschenke auszuprobieren und zu vergleichen. Ja, wir machten das einfach ab, in persona, ohne Handy, SMS und Whatsapp und wir haben es trotzdem geschafft, uns pünktlich und verlässlich zu treffen.
Wir wohnten sehr nahe bei der Kirche und so kam dann Tortur Nummer zwei recht rasch zum Einsatz.
Diese Tortur bestand darin, gemeinsam mit dem Vater im Wohnzimmer darauf zu warten bis Mutter das Weihnachtsessen auf den Tisch brachte.
So einen Quatsch wie Knackwurst und Kartoffelsalat an Heiligabend gab es nicht und ich erinnere mich gut daran, wie meine Eltern in ebenso ungläubiges, wie lautes Gelächter ausbrachen, als Bundeskanzler Helmut Schmidt kurz vor einem Weihnachtsfest im Fernsehen mal sagte, eben dieses Essen, Knackwurst und Kartoffelsalat, gäbe es bei ihm daheim zu Weihnachten.
Nein, an Weihnachten gab es einen dicken Braten. Eine Gans, einen Hasen oder Rinderbraten. Keine neumodischen Experimente, sondern Fleisch vom toten Tier, ordentlich Kartoffeln, viel dicke braune Soße und Gemüse.
Auch so neumodische Albernheiten, wie einen Salat zu jedem Essen, den brauchte man nicht. Das machte nur unnötig satt und man konnte ja dann nicht so viel Fleisch essen. Und Fleisch war wichtig für die Generation meiner Eltern, die während und nach dem Krieg so vieles hatten entbehren müssen.
Man kann sich vorstellen, wie schnell ich essen konnte und wie sehr ich quengelte und drängelte, meine Eltern mögen doch auch rasch aufessen, denn immer noch baumelte die doofe Voodoo-Pfote am dicken, braunen Vorhang und dahinter verbarg sich ganz bestimmt eine wahre Wunderwelt!
Dann endlich, aber erst, wenn der Tisch abgeräumt war, wurde die Vogelkralle entfernt und Mutter verschwand hinter dem Vorhang. Sie zündete die Kerzen an, denn unser Baum hatte in den ersten Jahren immer echte Kerzen, weshalb auch immer ein Eimer mit Wasser in der Zimmerecke stand, um im Falle eines Brandes den Baum löschen zu können.
Dann wurde das Glöckchen geklingelt und endlich zog Mutter strahlend den Vorhang auf.
Langsam betraten Vater und ich das Allerheiligste und zuerst musste man Baum und Krippe bestaunen.
Dann wurde der „dicke Teller“ überreicht. Das war ein mit weihnachtlichen Motiven bedruckter Pappteller, auf dem sich eine Apfelsine, Walnüsse, die teuren Paranüsse, ein paar Mandeln und Schokolinsen befanden.
Erst danach durfte ich die Geschenke durchforsten. Da standen etliche Päckchen.
Einmal waren das die Päckchen, die ich gepackt hatte. Immer hatte ich etwas für Vater und Mutter gekauft und mir dafür das Geld von meiner Mutter geben lassen. Taschengeld in einer erwähnenswerten Größenordnung gab es nämlich nicht, höchstens mal den Sonntagsgroschen.
Für Vater hatte ich meist etwas zum Heimwerken gekauft, einen Bohrer, eine Zange oder auch mal eine Flasche „Pitralon“-Rasierwasser. Für Mutter gab es meist eine Kerze und was Praktisches von 4711, nur nie Tosca!
So, und dann durfte ich meine Geschenke auspacken.
Ah! Ein selbst gestrickter Schal!
Welch große Überraschung, hatte ich doch die Wochen zuvor meine Mutter daran handarbeiten sehen.
Und dann, welche Freude, ein paar Socken!
Und im dritten Päckchen, im größten von allen, ach welche übergroße Wonne …
… befand sich die dicke Winterjacke, die meine Mutter mit mir gemeinsam vor drei Monaten bei C&A gekauft hatte.
Ja, sie hat diese teure Investition damals tatsächlich schon im Frühherbst mit den Worten getätigt: „Die ist dann aber auch schon für Weihnachten mit!“
Ich habe mich gefreut. Ehrlich!
Nun ja, zumindest so lange, bis die Bescherung vorüber war und ich mit meinem schönen neuen, selbst gestrickten Schal, der kratzte wie Hölle und aus der Wolle eines aufgeribbelten, ehemaligen Pullovers gemacht worden war, zu den Kindern in der Nachbarschaft lief.
Das war nämlich so üblich, dass man am Heiligen Abend in Kinderrunde seine Geschenke vorführte.
Die Ingrid hatte ein Puppenhaus bekommen, der Frank ein batteriebetriebenes Auto und der freche Klaus hatte einen Lego-Kasten bekommen.
So ging das Jahr für Jahr.
Mal gab es statt des Schals auch eine Wollweste und wenn es mal ganz gut lief, gab es auch mal was, das man dringend für die Schule brauchte, ein Federmäppchen oder auch mal ein Fünferpack Filzstifte.
Man könnte auch sagen, dass meine Mutter -mein Vater kümmerte sich sowieso mehr ums Geldverdienen- kein Händchen für Spielzeug hatte.
Oder um es genau zu sagen, für sie war Spielzeug nur herumliegender Krempel, der einen von Wichtigem abhalten könnte und der „unnütz, unnötig, überflüssig und unsinnig“ war. Fünf U, die meine Kindheit bestimmten: Unnütz, unnötig, überflüssig und unsinnig.
Okay, ich muss die Wahrheit sagen.
Es gab ein Jahr, das war das Jahr, als Otto Waalkes seine ersten Musik-Kassetten mit seinem spaßigen Programm auf den Markt gebracht hatte, da haben mir die Eltern tatsächlich eine von diesen Kassetten gekauft.
Das war ein ganz besonderes Jahr, weil ich da auch mal was anderes als längst zuvor bekannte und erhaltene Kleidung geschenkt bekam.
Einen Haken hatte die Sache jedoch, außer einer Musiktruhe mit Plattenspieler aus den 50er-Jahren gab es bei uns im Haus nur noch ein Grundig-Radio, jedenfalls keinen Kassettenrekorder …
Vier Jahre später erst bekam ich dann den Kassettenspieler … Auch das war ein ganz besonderes Fest.
Ach so, der Tannenbaum. Das muss ich auch noch erzählen, denn diese Geschichte erzählt von einer wirklich tollen Weihnacht.
Alles begann damit, dass meine Eltern mir erzählten, ich müsse für eine Woche mein Zimmer räumen, denn in diesem Jahr habe man nicht das Geld, um einen echten Tannenbaum zu kaufen und deshalb müsse der Vater selbst einen bauen.
„Da nehme ich einen Besenstiel, male den braun an und bohre lauter Löcher rein. Mit etwas Leim und Draht mache ich dann da ein paar Tannenzweige dran. Du wirst sehen, der wird sehr schön“, sagte er zu mir, der ich da mit enttäuschten Augen und staunend offenstehendem Mund dastand.
So werkelte er dann in meinem Zimmer, hämmerte, bohrte und klopfte. Ab und zu trug er in Decken gewickelte Bündel ins Zimmer und schwups war die Tür wieder zu
Der Heilige Abend verlief wie üblich. Vorhang, Hühnerpfote, Kirche, Stille Nacht, Heilige Nacht, Gänsebraten, Klingglöckchen …
Dann wurde der Vorhang geöffnet und … Ach nee … Wieso? Äh?
Da stand ein ganz normaler Tannenbaum, wie in jedem Jahr, ein echter, ein ganz normaler und in diesem Jahr sogar mit zwölf elektrischen Kerzen und besonders viel Lametta.
Ja aber … Aber Papa hatte doch gesagt …
„Na, dann komm mal mit in dein Zimmer“, sagte Papa und hatte schon Wasser in den leuchtend blauen Augen.
Ich öffnete die Tür zu meinem Zimmer und bin fast vor Staunen umgefallen!
Da stand, auf einer 2 x 3 Meter großen Holzplatte der Traum aller Jungs: Eine Carrera-Bahn! Eine echte, große Carrera-Autorennbahn!
Drei Autos, die dazugehörigen „Drücker“, ein Trafo, eine große Acht aus Schienen, Leitplanken und eine Tribüne mit Figuren …
Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Den ganzen Abend, ach was sage ich, die ganze Nacht habe ich die Autos im Kreis herumflitzen lassen, bis die Motoren glühten.
Bis an Heilige-Drei-Könige habe ich quasi ununterbrochen mit der Bahn gespielt und das war das erste und einzige Jahr, in dem die Kinder aus der Nachbarschaft mich beneideten und zu mir zum Spielen kamen.
Dann musste die Bahn wieder abgebaut werden, sie nahm ja den größten Teil des Zimmers ein.
Die Schienen wurden von der Platte gelöst und in einen Karton gepackt, die Platte wurde in drei handlichere Teile zerlegt und es hieß: „Die kannst du ja bei Gelegenheit mal wieder aufbauen, jetzt muss wieder Ordnung geschaffen werden.“
Es war das letzte Mal, dass ich die Bahn gesehen habe.
Sie verschwand in den darauffolgenden Tagen spurlos, wie so viele Spielzeuge, die Verwandte mir zwischendurch mal mitgebracht hatten, verschwunden waren.
Fragte ich mal nach meinen Spielsachen, so gab sich Mutter immer ahnungslos oder es wurde irgendeine Ungezogenheit meinerseits als Grund angeführt, warum man mir das jetzt habe wegnehmen müssen.
Später, meine Mutter war gestorben, hatte ich die Aufgabe, den Haushalt aufzulösen. Da entdeckte ich auf dem Dachboden eine große Seemannskiste, in der sich ein großer Teil meines Spielzeugs befand.
Eine Ritterburg, die Carrerabahn, ein Feuerwehrauto und sogar Sachen, die noch original in Geschenkpapier verpackt waren. Irgendwelche Leute hatten sie meiner Mutter für mich gegeben, um sie mir an einem meiner Geburtstage oder an Weihnachten zu überreichen …
Ich habe bis heute nicht begriffen, warum meine Mutter in Bezug auf Spielzeug so war.
Sie war eine ganz liebe Frau und ich habe, jetzt nach vielen Jahren sowieso, eine sehr gute und schöne Erinnerung an sie.
Sie hat mich auch geliebt und man kann sich wirklich keine fürsorglichere und liebevollere Mutter wünschen.
Aber warum durfte ich nie so spielen, wie andere Kinder?
Doch seit ich nach meinem Studium von zu Hause ausgezogen bin und vor allem nach dem ich meinen Abschluss gemacht und das erste richtige Geld verdient hatte, habe ich begonnen, mir Spielzeug zu kaufen.
Roboter, Eisenbahnen, Autos, Flugzeuge, Figuren, Bausätze und sonst noch alles Mögliche. Ich muss es kaufen! Und wenn ich in der Stadt bin, wo gehe ich hin? Klar! Zuallererst ins Spielzeuggeschäft!
In diesem Jahr habe ich mir übrigens eine Eisenbahn im Format Z schenken lassen. Spielen ist doch so etwas Schönes! Ich werde immer spielen und mir immer Spielzeug kaufen und wünschen!
Und wer mir was zum Anziehen kauft, der stirbt gleich unterm Tannenbaum, garantiert!
© 27.12.2013